FÜR NEUE MUSIK ZÜRICH
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12.01.2001  20:00  Gare du Nord, Basel
13.01.2001  20:00  Kantonsschule Stadelhofen

Kammerorchester Basel und ensemble für neue musik zürich

Hans Peter Frehner, Flöte
Hansruedi Bissegger, Klarinette
Urs Bumbacher, Violine
Samuel Brunner, Violoncello
Viktor Müller, Klavier
Matthias Eser, Schlagzeug
Jürg Henneberger Leitung
Posaunen:
David Bruchez, Dirk Amrein, Roman Uschenko

1. Teil
Christoph Neidhöfer (*1967):
"Glimpses" (Auf den Spuren eines Programms) für Streichorchester (1999

Andrea Scartazzini (*1971)
"Pollux" für Kammerorchester (Uraufführung der Neufassung 1999/2000

Dieter Ammann (*1962):
"Grooves – fitting one" für Kammerorchester UA
Auftragskomposition des Europäischen Musikmonats 2001)

2. Teil

Thomas Müller (*1953):
"Gehen, Fragment"
für Violine, Violoncello und Klarinette (1989)

"Quintett" (J’en ai perdu le souvenir)
für Flöte, Klarinette, Vio¬line, Violoncello und Klavier (1997)

“Zwei Sequenzen:Stehstelle/Gehstelle“
für Klarinette, Violine, Violoncello, Klavier und drei Posaunen (1993)


Christoph Neidhöfer

"Glimpses" (Auf den Spuren eines Programms) für Streichor¬chester (1999, Kompositionsauftrag der Stadt Zürich)
Wie die Klangwelt von Schönbergs "Verklärter Nacht" auf die Ohren des frühen 20. Jahrhunderts gewirkt haben
mochte, ist aus einhundertjähriger Distanz nur bedingt nacherlebbar. Und die heftige Diskussion, die sich seinerzeit
im Zusammenhang mit dem Programm des Werkes entzündete, ist längst in weite Entfernung gerückt. Meine Ohren
sind im letzten Drittel des letzten Jahrhunderts grossgeworden, und ich kann nicht umhin, in der "Verklärten Nacht"
Schönbergs spätere Entwicklung über die freie Atonalität hin zur Dodekaphonik, oder gar die Ausstrahlung auf
spätere Komponisten, welche von Schönbergs Musik beeinflusst waren, mitzudenken.
In "Glimpses" nahm ich mir vor, die verschiedensten Assoziationen, die sich mir beim Hören der "Verklärten Nacht"
einstellen, zu reflektieren und kompositorisch zu kommentieren. Das Klangmaterial des Schönbergschen Originals
wird punktuell aufgegriffen und systematisch transformiert – quasi in mehreren Schritten weiter "verklärt" – und in
eine Gestik übergeführt, welche mit dem spätromantischen Pathos der "Verklärten Nacht" nur noch wenig gemein
hat. Kurze "Flashbacks" rufen dieses Pathos aber immer wieder in Erinnerung.
"Glimpses" ist Howard Griffiths und dem Zürcher Kammerorchester gewidmet. (Ch.N.)


Andrea Scartazzini

"Pollux" für Kammerorchester (1999, Kompositionsauftrag von PRO HELVETIA, Schweizer Kulturstiftung /
Neufassung 2000) Kastor und Pollux, Söhne des Zeus, verbringen nach Kastors Tod abwechselnd einen Tag im
Schattenreich, einen im Götterolymp, um nicht voneinander getrennt in entferntesten Sphären leben zu müssen.
Der Titel "Pollux" verheisst indes nicht Programmusik, sondern steht als Ausdruck einer Zwillingsbeziehung
(Verwendung ähnlichen Materials) zwischen dieser Komposition und dem vorangegangenen Klaviersextett. Ferner
thematisiert er (eben in Anlehnung an die Sage) Gegensätzliches wie Licht und Schatten, Bewegung versus
Stillstand, (Gem)Einsamkeit (Solo/Tutti).
Das Stück ist Rudolf Kelterborn in Dankbarkeit gewidmet. (A.S.)


Dieter Ammann

"Grooves – fitting one" für Kammerorchester (Auftragskomposition des Europäischen Musikmonats 2001)
"Groove" (Furche, Rille) findet in seinen unterschiedlichen Bedeutungen Niederschlag in diesem Werk. Furchen,
welche einmal (direkt hörbar) auftauchen, um dann wieder abzu¬tauchen und subkutan weiterzuwirken, können sein:
eine feste Tonfolge, die grosse Teile des Stücks durchzieht (sei es Horizontal oder als Zusammenklang), fixierte
Rhythmus¬strukturen oder auch die Instrumentation, beispielsweise der unversöhnbar scheinende Dualismus von
Bläsern und Streichern. Im umgangssprachlichen Sinn meint Groove auch einen fühlbaren metrischen Puls: solche
Pulsierungen treten immer wieder in Erscheinung.
Mit "fitting" ist eine schon länger im Zentrum des kompositorischen Schaffens stehende Montagetechnik gemeint,
welche sich in diesem Werk nicht nur auf Satzstrukturen, sondern auch auf unterschiedliche Zeitverläufe erstreckt –
quasi ein Übereinanderlagern verschiedener "Grooves".


Thomas Müller

"GEHEN, Fragment" für Violine, Violoncello und Klarinette (1989, Auftragswerk des "ensemble
für neue musik zürich")
"GEHEN, Fragment" ist der Versuch, mittels streng verquerer Satztechnik absolut verbrauchtem Klangmaterial und
entleerten syntaktischen Redewendungen, also "Schrott", eine Art expressiver Substanz abzugewinnen, welche sich
auf eine nicht einwandfrei funktionierende Vitalität beruft. Strukturelle Abläufe im Kleinen wie im Grossen sind
dem entsprechenden Text "Gehen" von Thomas Bernhard nachempfunden: Denken, also Gehen, Gehen, also
Denken... eine Unmöglichkeit, welche vielleicht doch irgendwann mal in Heiterkeit umschlägt. (Th.M.)
Gehen. In Gang kommen, absichtslos. Stillstand. Schlendern (beiläufig gezwungen). Stillstand. In Gang kommen,
gehen. Gehen. Keine Rettungsanker, keine Landschaft, die Bäume kahl: der Wind weht: flussaufwärts neue
Gedanken. (Thomas Bernhard).


"QUINTETT" (J’en ai perdu le souvenir) für Flöte, Klarinette, Vio¬line, Violoncello und Klavier
(1997, Auftragswerk des "ensemble für neue musik zürich")
Neben einer elementaren Rhythmik sind einerseits Quarten, Quinten und grosse Terz/kleine Sekunde favorisiert,
andererseits geistern Reste von Periodik und kadenziellen Vorgängen aus Franz Schubert's Lied "Ave Maria"
herum, welches mittels verschiedener Verzerrungsmöglichkeiten (Verhallung, harmonische Austrocknung, zeitliche
Komprimierung/Zerdehnung usf.) natürlich nicht wiederzuerkennen ist, sondern als eine Art Steinbruch diente. Die
quasi "buchstabierende" Art der Notation (jeder Sekundenschlag ist ein Takt, bei einfachster rhythmischer
Unterteilung bzw. Notation von Tönen längerer Dauer) will den Klang so in einer elementaren Auffassung von Zeit
festnageln, dass er noch einmal seine alte Leuchtkraft entfaltet, ohne gleich verbrauchten syntaktischen Mustern zu
verfallen. (Th.M.)


ZWEI SEQUENZEN“: Stehstelle/Gehstelle“ für Klarinette, Violine, Violoncello, Klavier und drei
Posaunen. (1993, Auftrag der Musikkommission Basel Stadt)
Das Gegensatzpaar der „Zwei Sequenzen“ sind Musik polemischer Ausrichtung. „Stehstelle“ vermeidet jegliche
Prozessualität durch konsequente Verhinderung von möglichen logischen, also linearen Formbezügen. Maximal
zwei Sekunden dauernde Hyperaktivität setzt gerichtete Energie frei, welche durch die folgende Zeitstauung an ihrer
emphatischen Entfaltung gehindert werden. Ihre innere, instrumental bedingte labile Fluktuation setzt der quasi
unterdrückten „Aussage“ so einen zwar ungerichteten, aber expressiv aufgeladenen Erwartungsraum entgegen.
„Gehstelle“ realisiert äussere Bewegung als eigentliche innere Statik. Die charakteristisch „kurlige“ Laufbewegung
besteht aus einer derart diffusen inneren Zusammensetzung und rythmisch eindimensionalen Laufrichtung, dass sich
die Musik kaum zu mehr als einem potentiell nicht endenden Auftakt zu einem bissigen Etwas verfestigen kann. Zur
Vermittlung von Kampfgeist und Erhabenheit gleichermassen prädestiniert, stehen die drei schlaffen Posaunen
zwischen Stuhl und Bank, in ihrer Art affirmative Finalwirkung möglicherweise unterlaufend.


Christoph Neidhöfer
Geboren 1967. Studium an der Musikhochschule Basel mit den Hauptfächern Komposition (Rudolf Kelterborn), Musiktheorie (Roland Moser), Klavier (Jean-Jacques Dünki) und Dirigieren (Wilfried Boettcher). Als Fulbright-Stipendiat setzte Christoph Neidhöfer seine Studien in den USA an der Harvard University fort, wo er sich insbesondere musiktheoretischen Studien bei David Lewin widmete und 1999 mit einer Dissertation über das Spätwerk von Igor Strawinsky promovierte. Für seine kompositorische und pianistische Tätigkeit erhielt Christoph Neidhöfer verschiedene Preise und Auszeichnungen, unter anderem Kranichsteiner Musikpreis Darmstadt 1994 (Klavierduo), erster Preis beim Orchester-Kompositionswettbewerb in Besançon 1994, Stipendienpreis der Darmstädter Ferienkurse 1996 und Akiyoshidai International Composition Award, Japan, 1997. Von 1994 bis 1999 lehrte Christoph Neidhöfer an der Harvard University als Teaching Assistant musiktheoretische Fächer. Seit 1999 ist er Dozent für Musiktheorie und Komposition an der McGill University in Montréal (Canada).

Andrea Scartazzini
Geboren 1971. Studium der Germanistik und Italianistik an der Universität Basel. Kompositionsstudium bei Rudolf Kelterborn, Basel, und Wolfgang Rihm, Karlsruhe. 1999/2000 Studiensemester an der Royal Academy of Music London (Stipendium der Zuger Kulturstiftung Landis & Gyr). Mehrfach Zeichen der Anerkennung, so u.a. die Jakob Burckhardt Auszeichnung der Johann Wolfgang von Goethe Stiftung Basel, der Studienpreis der Ernst von Siemens Stiftung München und der Kulturförderpreis der Alexander Clavel Stiftung. Aufführungen im In- und Ausland, u.a. an den Salzburger Osterfestspielen 2000. Im September 2001 Uraufführung eines Werkes durch Jürg Henneberger und das Ensemble Phœnix Basel im Rahmen des „Lucerne Festival“.

Dieter Ammann
Geboren 1962. Seit frühester Jugend musikalische Betätigung in Form von Hausmusik. Mit 5 Jahren erster Klavierunterricht, später auf autodidaktischem Weg Trompete, während des Gymnasiums (nebst Klavier) auch Gitarre. Ab 1982 Studium an der Musikhochschule Luzern. Parallel dazu: 1983-84 Jazzschule Bern (allgemeine Abteilung), 1986 Aufenthalt in Berlin als freischaffender Musiker (v.a. improvisierte Musik), 1988-92 Studium für Theorie und Komposition an der Musikakademie Basel (R. Moser, D. Müller-Siemens). Ab 1990 Beginn der Kompositionstätigkeit, Meisterkurse bei W. Rihm, W. Lutoslawski, D. Schnebel, N. Castiglioni. In den 80er Jahren Auslandtourneen als Sideman oder mit eigenen Formationen (z.B. Jazzfestivals Köln, Brüssel, Willisau, Lugano etc.). Diverse Plattenaufnah¬men. Diverse Auszeichnungen und Stipendien (Hauptpreis am "International Competition for Com¬posers" [in honour of L. Berio] der IBLA-Foundation New York/Ragusa, 1998 Gewinner des Franz Liszt-Stipendiums der Hochschule für Musik "Franz Liszt" und der Weimar 1999 Kulturstadt Europa GmbH).Schreibt wenig, weil langsam.

Thomas Müller
Geboren 1953. 1974 Studium der Kirchenmusik an der ASK in Luzern; gleichzeitig Klavierlehrdiplom bei Bernhard Billeter am Konservatorium Luzern. 1976 Kurzstudium bei Hans Ulrich Lehmann, 1977-79 Kompositionsstudium bei Helmut Lachenmann an der MHS Hannover; dort auch Kurse in elektro¬akustischer Musik bei Ladislav Kupkovic. 1981-83 Studien bei Klaus Huber an der MHS Freiburg im Breisgau. 1980-83 Lehrdiplom für Theorie und Komposition bei Jacques Wildberger an der MHS Basel. Diverse Förderungsbeiträge und Auszeichnungen;
1992 und 1997 Werkjahre der Stadt Zürich. 1993 Conrad Ferdinand Meyer-Preis. 1988-97 Mitarbeit in der experimentellen Konzeptionsgruppe "Schief¬rund" zusammen mit Hans-Niklas Kuhn und Peter Sonderegger von alter/neuer Musik mit aktuellen Beiträgen aus geistesgeschichtlichen und verwandten ästhetischen Bereichen zu Denken und Handwerk; enorm öffnender und prägender Einfluss.
9. April 2024
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