ARCHIV
24.09.2012 19:30 Zürich, Tonhalle, kleiner Saal
Charles Ives: A Songbook
Bearbeitungen für Gesang und Kammerensemble: Sebastian Gottschick
Jeannine Hirzel/Mezzosopran
Omar Ebrahim/Bariton
ensemble für neue musik zürich
Hans-Peter Frehner/Flöte
Manfred Spitaler/Klarinette
Lorenz Raths/Horn
Lorenz Haas/Schlagzeug
Viktor Müller/Klavier
Urs Bumbacher/Violine
Nicola Romanò/Violoncello
Anna Trauffer/Kontrabass
Sebastian Gottschick/Leitung
Scenes of my childhood are floating before my eyes
Memories
The Circus Band
Old Home Day
Down East
He liked to watch the funny things a-going by
Intermezzo: Scherzo: All the Way Around And Back
The See'r
Charlie Rutlage
Ann Street
Grantchester
In The Cage
The Housatonic At Stockbridge
Sebastian Gottschick
Whispers Of Heavenly Death (2009/11) nach Walt Whitman
__________________
And blind eyes opened on a new sweet world
Vote for names!
Watchman!
At the river
General W. Booth Enters Into Heaven
Serenity
Intermezzo: Gyp The Blood
Silence is pleased
Requiem
Like A Sick Eagle
A Farewell To Land
Intermezzo: In the Night
Evening
****
„The ever flowing, ever changing, growing ways of mind & imagination” – Lieder und Ensemblestücke von Charles Ives in Bearbeitungen von Sebastian Gottschick
In Ives’ umfangreichem, weitgehend zwischen 1898 und 1918 entstandenen Œuvre, nehmen seine fast 200 Lieder einen zentralen Platz ein: Sie umspannen den gesamten Zeitraum seiner künstlerischen Aktivität und spiegeln das heute noch staunen machende kompositorische Vokabular wider, mit dessen Hilfe er nicht zuletzt die Emanzipation der amerikanischen Kunstmusik von Europa vollzog. 1921 veröffentlichte er mit den 114 Songs eine Auswahl, die eine kunstvoll zusammengestellte klingende Autobiographie ist und ein Kompendium all dessen, was ein amerikanischer Hörer um 1900 in verschiedenen sozialen Kontexten hören konnte: vom vornehm-dekadenten europäischen Kunstlied, das in vornehmen Bostoner Salons erklang, über die schlichte Kirchenhymne bis zum populären, bei geselligen oder patriotischen Anlässen gesungenen Straßenlied („Street Song“). Aber Ives fügte noch eine experimentelle Dimension hinzu, um die „Seelen- und Hörmuskel“ des Hörers zu trainieren. So werden die 114 Songs mit dem monumentalen Lied Majority (The Masses) eröffnet, einem flammenden Aufruf für eine gerechtere Gesellschaft, den er mit wuchtigen, geradezu schockierenden Cluster-Klängen des Klaviers symbolisiert. Andere, bis dahin im europäischen Kunstlied kaum je erprobte oder gewagte Mittel kommen hinzu: der realistische, der Alltagssprache nachempfundene Singstil (und damit der Verzicht auf eine literarische Psychologisierung), der vielfältige Einsatz der Sprechstimme (entweder als vorangestellter Kommentar wie in No. 96, einem Lied „ohne Titel“, oder als parallel zum autonomen Klaviersatz gesprochener Text), die überraschende Hinzuziehung anderer Instrumente (wie dem Kazoo) oder die Erweiterung der gestalterischen Mittel durch Pfeifen und Rufen. Dadurch erreicht Ives eine außergewöhnliche Erweiterung der Vorstellung dessen, was Singen ist. Und es stellt sich die Frage: Wer singt hier eigentlich – ein lyrisches Ich, das universale Gefühle und Stimmungslagen ausdrückt, oder ein Stellvertreter konkreter Menschen? Eigentlich müsste jedes einzelne Lied von verschiedenen Sängern (Frauen, Männern, Alten, Jungen) und Instrumentalisten aufgeführt werden – eine Utopie des Konzertlebens!
Querständigkeit ist vielleicht der Begriff, der dieses musikalische Denken und Handeln am besten charakterisiert. Musik als Teil einer konsumorientierten Kultur wie als bloßer Religionsersatz lehnte Ives zutiefst ab: Musikalische (Kunst-)Werke waren für ihn nicht tote Objekte, sondern lebendige Wesen, die ihr eigenes „Leben“ führten, sobald er sie niedergeschrieben und damit in die Welt „entlassen“ hatte. Ihre Stilmittel sollten nicht an bequemen ästhetischen Werturteilen gemessen werden, sondern als Ausdruck einer bestimmten Welthaltigkeit, die auch verschlüsselt die (jeweilige) biographische Situation des Komponisten enthielt. So waren Ives’ musikalische Ideen auch oft einer improvisatorischen Situation entsprungen und waren für Ausführungs- und Hörorgane gedacht, die erst die Zukunft hervorbringen würde. Und Ives ging noch weiter, indem er andere Komponisten aufforderte, seine Musik weiterzuschreiben, so sein unvollendet gebliebenes Vermächtnis der Universe Symphony.
Dahinter steht die Utopie einer ästhetischen Demokratie, die Ives in einem visionären und gleichzeitig sehr romantisch anmutenden Bild im Nachwort zu seiner monumentalen Sammlung der 114 Songs formulierte: “Das instinktive, progressive Interesse eines jeden Menschen an der Kunst - das wollen wir ohne Einschränkung festhalten - wird immer weiter bestehen, immerzu alte Hoffnungen erfüllend und neue Hoffnungen bildend; bis der Tag kommt, da jeder Mensch beim Jäten der Kartoffeln seine eigenen Epen und Symphonien (oder Opern, wenn er will) erschaffen wird; und wenn er so eines Abends, hemdsärmlig und Pfeife rauchend, im Hinterhof sitzt und seinen wackeren Kindern zusieht, wie sie ihren Spaß an ihren Themen zu ihren Sonaten ihres Lebens haben, dann wird er über die Berge blicken und seine Vision in ihrer Wirklichkeit erschauen.“
In diesem pathetischen Bild schwingt ein lebensphilosophischer Erlösungsgedanke der Jahrhundertwende mit, die Vorstellung einer Besserung der Welt durch die Kunst. Aber der Pragmatiker Ives, im Hauptberuf erfolgreicher Versicherungsunternehmer und privat ein überzeugter Sozialreformer, geht von der vermeintlich niederen Verrichtung der Feldarbeit aus, die er mit der Forderung verbindet, der individuellen Kreativität ihren Platz in der Gesellschaft zu geben. Die Musik, die an dieser Aufgabe mitwirkt, besitzt für Ives "Substanz" („substance“), alle andere verfällt für ihn der bloßen „Manier“ („manner“). Die Substanz, die Ives meint, ist ein kommunikativer Akt zwischen dem Komponisten, dem Interpreten und dem Hörer. Die Offenheit und Fülle von Ives’ musikalischem Weltbild, wie sie uns in den Liedern entgegentreten, signalisiert damit auch eine werkübergreifende Offenheit und Durchlässigkeit der klanglichen Realisierung. So steht die von ihm favorisierte Advents-Hymne Watchman, tell us of the Night mit einem Satz der 1. Violinsonate und dem Kopfsatz der 4. Symphonie in Verbindung; von The New River und The Housatonic at Stockbridge gibt es Versionen für Chor und Ensemble bzw. für großes Orchester (als dritter Satz der Three Places in New England). Das Heilsarmeestück General William Booth Enters into Heaven, eine von Ives’ suggestivsten Kompositionen, existiert neben der Klavierfassung in einer Fassung für Chor und Militärkapelle sowie einer weiteren für Chor und Kammerorchester, die John Becker unter der Aufsicht von Ives 1934 erstellte. Ives ging noch weiter: Als einer der ersten Komponisten bediente er sich der Idee des „work in progress“, die einem seiner Hauptwerke, der 2. Klaviersonate Concord, Mass. 1840-1860, zugrunde liegt. Und die monumentale 4. Symphonie stellte er aus prä-existenten Sätzen zusammen, deren Gesamtheit die Utopie einer universalen ästhetischen Demokratie entwirft. Klang ist für Ives ein „Gewand“, das die „Substanz“ je anders umhüllt und darstellt, die selbst stets mehr ist als die Summe ihrer Teile bzw. Fassungen.
Der stete Austausch von musikalischen Ideen, die in immer wieder anderen instrumentalen und/oder vokalen Konstellationen auftauchen, bestimmt dieses Denken zutiefst und erlaubt es heutigen Komponisten, das Potential von Ives’ Musik unseren Hörerfahrungen anzunähern. Sebastian Gottschicks Bearbeitungen von Liedern und kurzen Instrumentalstücken Ives’ sind über die Hommage hinaus in diesem Sinn eigenständige Weiterentwicklungen. Der von ihm gewählte, facettenreiche Klangkörper und seine Art der Instrumentation ermöglichen eine differenzierte Reaktion auf den spezifischen, zwischen derbem Realismus und symbolistischer Gebrochenheit changierenden Ives-Klang: entweder, in dem sie ihm bewusst ausweichen (etwa durch die Verwendung eines Vibraphons in Grantchester) oder indem sie die Fragmentierung bis zur prismatischen Auflösung des Klangs steigern. Darüber hinaus hat Gottschick hat seine Auswahl einer multi-perspektivischen Ordnung und Abfolge unterworfen. Sie ist deutbar als ein Drama en miniature, als Modell eines natürlichen Tagesablaufs von den morgendlichen Traumfetzen bis zur anbrechenden Nacht, schließlich auch als Inbegriff der Vielgestaltigkeit des Lebens selbst. Dahinter wird Ives’ Lebensthema sicht- und hörbar, die Macht und Ungreifbarkeit der Erinnerung. So spricht aus seiner Musik das (mitunter auch unverhohlen sentimental getönte) Gefühl, eine paradiesische Kindheitswelt und –erfahrung unwiederbringlich verloren zu haben. Der Trauer setzt Ives freilich eine mitreißende, lebensbejahende Energie und tiefe religiöse Glaubensgewissheit entgegen. Aus dem Zusammenstoß dieser Gegensätze entsteht die einzigartige Wirkung von Ives’ Musik, die der Komponist selbst als Ausdruck und Folge der „ever flowing, ever changing, growing ways of mind & imagination – over the great unchanging truths of life & death“ fasste.
Wolfgang Rathert
Charles Ives: A Songbook
Bearbeitungen für Gesang und Kammerensemble: Sebastian Gottschick
Jeannine Hirzel/Mezzosopran
Omar Ebrahim/Bariton
ensemble für neue musik zürich
Hans-Peter Frehner/Flöte
Manfred Spitaler/Klarinette
Lorenz Raths/Horn
Lorenz Haas/Schlagzeug
Viktor Müller/Klavier
Urs Bumbacher/Violine
Nicola Romanò/Violoncello
Anna Trauffer/Kontrabass
Sebastian Gottschick/Leitung
Scenes of my childhood are floating before my eyes
Memories
The Circus Band
Old Home Day
Down East
He liked to watch the funny things a-going by
Intermezzo: Scherzo: All the Way Around And Back
The See'r
Charlie Rutlage
Ann Street
Grantchester
In The Cage
The Housatonic At Stockbridge
Sebastian Gottschick
Whispers Of Heavenly Death (2009/11) nach Walt Whitman
__________________
And blind eyes opened on a new sweet world
Vote for names!
Watchman!
At the river
General W. Booth Enters Into Heaven
Serenity
Intermezzo: Gyp The Blood
Silence is pleased
Requiem
Like A Sick Eagle
A Farewell To Land
Intermezzo: In the Night
Evening
****
„The ever flowing, ever changing, growing ways of mind & imagination” – Lieder und Ensemblestücke von Charles Ives in Bearbeitungen von Sebastian Gottschick
In Ives’ umfangreichem, weitgehend zwischen 1898 und 1918 entstandenen Œuvre, nehmen seine fast 200 Lieder einen zentralen Platz ein: Sie umspannen den gesamten Zeitraum seiner künstlerischen Aktivität und spiegeln das heute noch staunen machende kompositorische Vokabular wider, mit dessen Hilfe er nicht zuletzt die Emanzipation der amerikanischen Kunstmusik von Europa vollzog. 1921 veröffentlichte er mit den 114 Songs eine Auswahl, die eine kunstvoll zusammengestellte klingende Autobiographie ist und ein Kompendium all dessen, was ein amerikanischer Hörer um 1900 in verschiedenen sozialen Kontexten hören konnte: vom vornehm-dekadenten europäischen Kunstlied, das in vornehmen Bostoner Salons erklang, über die schlichte Kirchenhymne bis zum populären, bei geselligen oder patriotischen Anlässen gesungenen Straßenlied („Street Song“). Aber Ives fügte noch eine experimentelle Dimension hinzu, um die „Seelen- und Hörmuskel“ des Hörers zu trainieren. So werden die 114 Songs mit dem monumentalen Lied Majority (The Masses) eröffnet, einem flammenden Aufruf für eine gerechtere Gesellschaft, den er mit wuchtigen, geradezu schockierenden Cluster-Klängen des Klaviers symbolisiert. Andere, bis dahin im europäischen Kunstlied kaum je erprobte oder gewagte Mittel kommen hinzu: der realistische, der Alltagssprache nachempfundene Singstil (und damit der Verzicht auf eine literarische Psychologisierung), der vielfältige Einsatz der Sprechstimme (entweder als vorangestellter Kommentar wie in No. 96, einem Lied „ohne Titel“, oder als parallel zum autonomen Klaviersatz gesprochener Text), die überraschende Hinzuziehung anderer Instrumente (wie dem Kazoo) oder die Erweiterung der gestalterischen Mittel durch Pfeifen und Rufen. Dadurch erreicht Ives eine außergewöhnliche Erweiterung der Vorstellung dessen, was Singen ist. Und es stellt sich die Frage: Wer singt hier eigentlich – ein lyrisches Ich, das universale Gefühle und Stimmungslagen ausdrückt, oder ein Stellvertreter konkreter Menschen? Eigentlich müsste jedes einzelne Lied von verschiedenen Sängern (Frauen, Männern, Alten, Jungen) und Instrumentalisten aufgeführt werden – eine Utopie des Konzertlebens!
Querständigkeit ist vielleicht der Begriff, der dieses musikalische Denken und Handeln am besten charakterisiert. Musik als Teil einer konsumorientierten Kultur wie als bloßer Religionsersatz lehnte Ives zutiefst ab: Musikalische (Kunst-)Werke waren für ihn nicht tote Objekte, sondern lebendige Wesen, die ihr eigenes „Leben“ führten, sobald er sie niedergeschrieben und damit in die Welt „entlassen“ hatte. Ihre Stilmittel sollten nicht an bequemen ästhetischen Werturteilen gemessen werden, sondern als Ausdruck einer bestimmten Welthaltigkeit, die auch verschlüsselt die (jeweilige) biographische Situation des Komponisten enthielt. So waren Ives’ musikalische Ideen auch oft einer improvisatorischen Situation entsprungen und waren für Ausführungs- und Hörorgane gedacht, die erst die Zukunft hervorbringen würde. Und Ives ging noch weiter, indem er andere Komponisten aufforderte, seine Musik weiterzuschreiben, so sein unvollendet gebliebenes Vermächtnis der Universe Symphony.
Dahinter steht die Utopie einer ästhetischen Demokratie, die Ives in einem visionären und gleichzeitig sehr romantisch anmutenden Bild im Nachwort zu seiner monumentalen Sammlung der 114 Songs formulierte: “Das instinktive, progressive Interesse eines jeden Menschen an der Kunst - das wollen wir ohne Einschränkung festhalten - wird immer weiter bestehen, immerzu alte Hoffnungen erfüllend und neue Hoffnungen bildend; bis der Tag kommt, da jeder Mensch beim Jäten der Kartoffeln seine eigenen Epen und Symphonien (oder Opern, wenn er will) erschaffen wird; und wenn er so eines Abends, hemdsärmlig und Pfeife rauchend, im Hinterhof sitzt und seinen wackeren Kindern zusieht, wie sie ihren Spaß an ihren Themen zu ihren Sonaten ihres Lebens haben, dann wird er über die Berge blicken und seine Vision in ihrer Wirklichkeit erschauen.“
In diesem pathetischen Bild schwingt ein lebensphilosophischer Erlösungsgedanke der Jahrhundertwende mit, die Vorstellung einer Besserung der Welt durch die Kunst. Aber der Pragmatiker Ives, im Hauptberuf erfolgreicher Versicherungsunternehmer und privat ein überzeugter Sozialreformer, geht von der vermeintlich niederen Verrichtung der Feldarbeit aus, die er mit der Forderung verbindet, der individuellen Kreativität ihren Platz in der Gesellschaft zu geben. Die Musik, die an dieser Aufgabe mitwirkt, besitzt für Ives "Substanz" („substance“), alle andere verfällt für ihn der bloßen „Manier“ („manner“). Die Substanz, die Ives meint, ist ein kommunikativer Akt zwischen dem Komponisten, dem Interpreten und dem Hörer. Die Offenheit und Fülle von Ives’ musikalischem Weltbild, wie sie uns in den Liedern entgegentreten, signalisiert damit auch eine werkübergreifende Offenheit und Durchlässigkeit der klanglichen Realisierung. So steht die von ihm favorisierte Advents-Hymne Watchman, tell us of the Night mit einem Satz der 1. Violinsonate und dem Kopfsatz der 4. Symphonie in Verbindung; von The New River und The Housatonic at Stockbridge gibt es Versionen für Chor und Ensemble bzw. für großes Orchester (als dritter Satz der Three Places in New England). Das Heilsarmeestück General William Booth Enters into Heaven, eine von Ives’ suggestivsten Kompositionen, existiert neben der Klavierfassung in einer Fassung für Chor und Militärkapelle sowie einer weiteren für Chor und Kammerorchester, die John Becker unter der Aufsicht von Ives 1934 erstellte. Ives ging noch weiter: Als einer der ersten Komponisten bediente er sich der Idee des „work in progress“, die einem seiner Hauptwerke, der 2. Klaviersonate Concord, Mass. 1840-1860, zugrunde liegt. Und die monumentale 4. Symphonie stellte er aus prä-existenten Sätzen zusammen, deren Gesamtheit die Utopie einer universalen ästhetischen Demokratie entwirft. Klang ist für Ives ein „Gewand“, das die „Substanz“ je anders umhüllt und darstellt, die selbst stets mehr ist als die Summe ihrer Teile bzw. Fassungen.
Der stete Austausch von musikalischen Ideen, die in immer wieder anderen instrumentalen und/oder vokalen Konstellationen auftauchen, bestimmt dieses Denken zutiefst und erlaubt es heutigen Komponisten, das Potential von Ives’ Musik unseren Hörerfahrungen anzunähern. Sebastian Gottschicks Bearbeitungen von Liedern und kurzen Instrumentalstücken Ives’ sind über die Hommage hinaus in diesem Sinn eigenständige Weiterentwicklungen. Der von ihm gewählte, facettenreiche Klangkörper und seine Art der Instrumentation ermöglichen eine differenzierte Reaktion auf den spezifischen, zwischen derbem Realismus und symbolistischer Gebrochenheit changierenden Ives-Klang: entweder, in dem sie ihm bewusst ausweichen (etwa durch die Verwendung eines Vibraphons in Grantchester) oder indem sie die Fragmentierung bis zur prismatischen Auflösung des Klangs steigern. Darüber hinaus hat Gottschick hat seine Auswahl einer multi-perspektivischen Ordnung und Abfolge unterworfen. Sie ist deutbar als ein Drama en miniature, als Modell eines natürlichen Tagesablaufs von den morgendlichen Traumfetzen bis zur anbrechenden Nacht, schließlich auch als Inbegriff der Vielgestaltigkeit des Lebens selbst. Dahinter wird Ives’ Lebensthema sicht- und hörbar, die Macht und Ungreifbarkeit der Erinnerung. So spricht aus seiner Musik das (mitunter auch unverhohlen sentimental getönte) Gefühl, eine paradiesische Kindheitswelt und –erfahrung unwiederbringlich verloren zu haben. Der Trauer setzt Ives freilich eine mitreißende, lebensbejahende Energie und tiefe religiöse Glaubensgewissheit entgegen. Aus dem Zusammenstoß dieser Gegensätze entsteht die einzigartige Wirkung von Ives’ Musik, die der Komponist selbst als Ausdruck und Folge der „ever flowing, ever changing, growing ways of mind & imagination – over the great unchanging truths of life & death“ fasste.
Wolfgang Rathert